Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Darmstadt e.V.

Gedenkrede Dekanin Schmidt-Hesse 2017

Hier lesen Sie den Text der Gedenkrede, die Dekanin Ulrike Schmidt-Hesse am 9. November 2017 in der Synagoge gehalten hat:

Sehr geehrter Herr Neumann,                                                         

sehr geehrter Herr Rabbiner Ahrens,

sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinde,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Partsch,

meine Damen und Herren,

die Mitarbeit in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehört essentiell zum Ev. Dekanat Darmstadt-Stadt. Unser Dekanat ist seit Jahrzehnten korporatives Mitglied in der Gesellschaft und unterstützt sie aktiv. So habe ich die ehrenvolle und herausfordernde Aufgabe, die der Vorstand der GCJZ an mich herangetragen hat, übernommen, heute als Dekanin des Evangelischen Dekanats für die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zum Gedenken an den 9. November 1938 hier in der Synagoge zu sprechen. 

Erst vor kurzem, am 31. Oktober, wurde das 500. Jubiläum der Reformation begangen. Wir haben uns in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der EKHN, in Gemeinschaft auch mit anderen Landeskirchen, in den vergangenen 10 Jahren intensiv mit den Themen der Reformation, mit ihrer Bedeutung für unsere Gegenwart, aber auch mit dem dunklen Erbe Martin Luthers beschäftigt und kritisch auseinandergesetzt. Das gilt insbesondere für die judenfeindlichen Schriften des Reformators.

Gerade heute am 9. November werden wir daran erinnert, dass sich die Nationalsozialisten auf Luthers Forderungen aus dem Jahr 1543 berufen konnten. Das Niederbrennen von Synagogen war eine dieser entsetzlichen judenfeindlichen Forderungen; im Jahr 1938 wurde dies in schrecklichem Ausmaß Realität, auch hier in Darmstadt.

Ich bin heute Morgen an den Orten der früheren Darmstädter Synagogen gewesen, die vor 79 Jahren zerstört wurden, in der Bleichstraße, auf dem Gelände des Klinikums und an der Modaubrücke: Orte, an denen Menschen zu Gott gebetet haben, wo sie in Freude und in Leid zusammen kamen. Ihre Gebetshäuser, zerstört von Deutschen anderen Glaubens oder ohne religiöse Bindung. Ich dachte dort auch an das rheinhessische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Als Jugendliche erfuhr ich, dass neben dem Haus, in dem wir wohnten, eine große schöne Synagoge gestanden hatte, die in der Pogromnacht zerstört worden war – von Leuten von außerhalb, so hieß es. In den 50er Jahren waren die Überreste abgerissen worden. Es hat lange gedauert, bis eine Gedenktafel angebracht wurde. Ich habe mich als Jugendliche gefragt: Wie hätte ich mich 1938 verhalten, als Nachbarin? Diese Frage begleitet mich bis heute.

Ich stehe an den Gedenkorten in Darmstadt und denke an die Menschen damals, an ihr Leben, ihren Glauben. Ich denke an die Schuldgeschichte, in der ich stehe und an meine Mitverantwortung für die Gestaltung einer besseren Gegenwart und Zukunft.

Der 9. November erinnert insbesondere die Kirchen daran, dass die jahrhundertealte antijüdische Tradition in der Lehre der Kirche zum Aufkommen des modernen Antisemitismus und zu dessen Verbreitung beigetragen hat. Im Erkennen und im Erschrecken über diesen Hintergrund hat die Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 1991 beschlossen, den Grundartikel der Kirche mit diesen Sätzen zu erweitern: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (die EKHN) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“

Mit diesen Sätzen markiert unsere Kirche einen grundsätzlichen Neuansatz in der Wahrnehmung des Judentums. In dem christlichen Bekenntnis der Kirche ist mit diesen Sätzen eine theologische Anerkennung des Judentums, seines Glaubens und seines Lebens eingeschlossen. Der geänderte Grundartikel hat so eine Basis für unsere Kirche geschaffen, einen offenen Dialog mit unseren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn als anerkannte und gleichberechtigte Partner zu führen und zu vertiefen. Inzwischen wird dies in Hessen in Gesprächen und Kooperationen auf verschiedensten Ebenen in vertrauensvoller Atmosphäre umgesetzt.

Gerade auch dieses wachsende Vertrauen in den christlich-jüdischen Begegnungen machte in den Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum schmerzlich bewusst, dass die Reformation im 16. Jahrhundert auch eine antijüdische Tradition in den Anfang der Entwicklung des deutschen Protestantismus hineingepfropft hat.

Es war den Verantwortlichen für die 10jährige thematische Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum klar, dass diese dunkle Seite der Reformation nicht verschwiegen werden dürfe, sondern dass hier eine klare und deutliche Auseinandersetzung geführt werden müsse.

In unserer Kirche haben wir uns dieser Herausforderung in einer Tagung unserer Kirchensynode im November 2014 gestellt. Die Synode hat dabei ein Votum zur Distanzierung von Luthers Judenschriften beschlossen, in dem formuliert wird:

„Die nachfolgenden Aussagen zu Luthers „Judenschriften“ wollen nicht die zentrale Bedeutung Luthers für die Geschichte und die Theologie des Protestantismus in Frage stellen. Sie wollen aber darauf aufmerksam machen, dass Luthers Verhältnis zum Judentum, wie es sich in seinen „Judenschriften“ spiegelt, weder ein zufälliges Ereignis, noch eine marginale Größe innerhalb seines reformatorischen Wirkens oder theologischen Denkens ist. Luthers Haltung nimmt vielmehr einen verbreiteten zeitgenössischen Antijudaismus auf, verknüpft ihn mit zentralen Einsichten seiner Theologie, insbesondere der Rechtfertigungslehre, und gibt Handlungsanleitungen, die der völkische Antisemitismus aufgreifen konnte“.

In dem ein Jahr später folgenden Votum der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) heißt es:

„Auf Luthers Ratschläge konnte Jahrhunderte lang zurückgegriffen werden. … (man hat) sich auf Luthers Spätschriften zur Rechtfertigung von Judenhass und Verfolgung berufen, insbesondere mit dem aufkommenden rassischen Antisemitismus und in der Zeit des Nationalsozialismus. Einfache Kontinuitätslinien lassen sich nicht ziehen. Gleichwohl konnte Luther im 19. und 20. Jahrhundert für theologischen und kirchlichen Antijudaismus sowie politischen Antisemitismus in Anspruch genommen werden.“

Mit Blick auf die genannte neue kirchliche Wahrnehmung des Judentums haben die Mitglieder der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau am Ende ihres Votums erklärt:

„Dem widerspricht die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau mit ihrem 1991 erweiterten Grundartikel ihrer Kirchenordnung nachdrücklich“. Damit hat sich die EKHN  von den judenfeindlichen Schriften Martin Luthers klar und eindeutig distanziert.

Es ist uns bewusst, dass mit einem Votum der Synode die Herausforderungen in dieser Auseinandersetzung mit dem Erbe der Reformation nicht einfach abgearbeitet sind. Noch haben wir daran zu arbeiten, dass die Überwindung antijüdischer Haltungen und die Entwicklung neuer Beziehungen zwischen Juden und Christen vor Ort in den Gemeinden und im Gemeinwesen noch besser wahrgenommen und aufgenommen werden.

Gern werde auch ich als Dekanin mich dafür einsetzen, dass hier in Darmstadt die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Kirchengemeinden und der Synagogengemeinde weiter vertieft und gut gepflegt werden. Ich sehe es dabei auch als unsere Aufgabe an, gemeinsam zu einem guten Zusammenleben auch mit Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen in unserer Stadt beizutragen. Religionen müssen gerade heute ihr Potential freilegen und stärken, das sie für die Förderung eines friedlichen Zusammenlebens und der Anerkennung der Menschenwürde jedes Einzelnen haben. Wir müssen dem Missbrauch von Religion zum Anheizen von Spannungen widerstehen.

Wir engagieren uns in unserer Stadt in vielfältiger Weise im interreligiösen Gespräch.  Christen, Juden, Muslime und Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften setzen sich gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung ein. Wir führen einen kritischen Dialog miteinander und treten für Weltoffenheit und Demokratie, für gegenseitigen Respekt und gegen Fundamentalismus in den Religionen ein. Dies ist angesichts von politischen und religiösen Radikalisierungen, Vorurteilen und Gefährdungen verschiedenster Couleur keine leichte Aufgabe. Ich bin sehr dankbar, lieber Herr Neumann, dass wir dabei vertrauensvoll zusammen arbeiten können und ich freue mich auf intensive Gespräche mit Ihnen, lieber Herr Ahrens. Und ich darf ergänzen: Die GCJZ Darmstadt freut sich mit der Jüdischen Gemeinde, dass sie wieder einen Rabbiner hat. Und sie ist dankbar dafür, dass dieser Rabbiner einer der Vordenker des jüdisch-christlichen Dialogs ist.

Dass nach Jahrhunderten der Vorurteile und des Misstrauens in den Beziehungen zwischen Christen und Juden ein Neuanfang gelingen konnte, der auf Respekt und gegenseitiger Anerkennung beruht, ist ein Hoffnungszeichen in unserer Welt, in der die Verschärfung von Konflikten derzeit an vielen Stellen erschreckend voranschreitet.                                             

Möge dieses Hoffnungszeichen kräftig leuchten in unserer Stadt und ausstrahlen und sich mit anderen Hoffnungszeichen verschränken.

Soll ich meines Bruders Hüter sein, fragt Kain.

Meine Sehnsucht ist, dass wir einander und anderen Menschen sagen: Schwester, ich will deine Hüterin sein. Bruder, ich will dein Hüter sein.

Ulrike Schmidt-Hesse